26.06.2025, 18-21:00 – opening Sunah Choi Maquette

GROTTO
Marina Pinsky
Tomorrow Never Comes
12.10.24—21.11.24
Vernissage: 11.10.2024, 17:00—20:00
courtesy of the artist & CLEARING New York, Los Angeles, Foto von Benjamin Baltus.
courtesy of the artist & CLEARING New York, Los Angeles, Foto von Benjamin Baltus.
courtesy of the artist & CLEARING New York, Los Angeles, Foto von Benjamin Baltus.
courtesy of the artist & CLEARING New York, Los Angeles, Foto von Benjamin Baltus.

Acht Tischskulpturen: das Hansaviertel in Berlin, aufgeteilt in einzelne Plastiken entlang subjektiv gezogener Grenzen. Diese folgen zwar größtenteils den Straßen und Demarkationen jenes Viertels am Nordrand des Tiergartens, sorgen in ihrer ungewöhnlichen Partitionierung aber auch für gewisse Irritation. Wer mit dem Stadtteil vertraut ist, erkennt dennoch schnell die Straßen, die sich durch die das Viertel ziehen, kann dieses oder jenes Haus identifizieren, das sich aus der patinierten Bronze erhebt – im sehr viel bekannteren Süden der Bahntrasse, wo sich jene, in den 1950er-Jahren für die IBA 57 entstandene Mustersiedlung mit ihren prägnanten, im Grün des Parks annähernd freigestellten Bauten bekannter (und ausnahmslos männlicher) Architekten befindet, ebenso wie im weniger auffälligen Norden mit seinem größeren Altbaubestand und der dichteren Neubebauung aus den 1960er-Jahren.

Ursprünglich waren diese Skulpturen von Marina Pinsky Teil eines umfassenderen, erstmals 2020 in Brüssel präsentierten Werkkomplexes. Pinsky hatte sich darin, grob gesagt, mit dem Blick hinauf in den Himmel, mit Sternbildern und Sternkarten, ebenso wie mit dem hinunter auf die Erde, mit Luftaufklärung und Satellitenbildern, auseinandergesetzt. In zwei verkoppelten Serien baute sie die Stadtviertel, in denen sie lebte, eben das Hansaviertel sowie den Brüsseler Stadtteil Koekelberg, auf Grundlage von Google-Maps-Bildern nach. Betont handgemacht streichen diese Arbeiten gerade die persönliche Wiederaneignung, das subjektive Herunterrechnen des vom technischen Bild abstrahierten eigenen Lebensumfelds heraus. Pinsky behielt die Glitches und Abweichungen der Ausgangsbilder bei, und so verliert über ihr dezidiert subjektives Übertragen der Bilder hinaus auch das Kameraauge ein Stück weit seine vermeintliche Objektivität.

Doch diese Geschichte, diese ihrerseits vermeintlich objektive Rede von Ideen, Konzepten und Verfahren, mit der sich die Erfahrung von Kunst aus der eigenen unmittelbaren Anschauung ein Stück weit ins allgemeingültig Diskursive hochrechnen lässt, tritt im Falle der Ausstellung bei GROTTO, einem Raum, der sich inmitten des Hansaviertels befindet, in den Hintergrund. Herausgelöst und ohne das Koekelberg-Pendant tritt nun, da die Darstellung in das eingefügt wird, was sie darstellt, der Ort selbst ins Zentrum. Das Ergebnis: Beobachtung der Beobachtung, eine Echokammer, Selbstreflexion. Die dazugehörige Lesart: Wiedererkennendes Abgleichen ... das ist doch ... siehst du hier ... erkennst du da ... ja, genau. Hier sind wir, heute.

Im Hansaviertel – womit nicht ganz korrekt meist nur das Interbau-Ensemble gemeint ist – lebt Marina, lebt Leonie, die GROTTO betreibt, lebe ich. Es ist ein Viertel, das geprägt ist von Abwesenheiten, von dem, was einst hier stand und nicht mehr ist, von dem, was jenseits seiner Grenzen liegt und indirekt seine Form bestimmt. Topografisch: der weniger prominente Norden des Viertels, der üblicherweise einfach unterschlagen wird. Politisch: sein Pendant im früheren Ostberlin, die ehemalige Stalinallee mit ihren opulenten Arbeiterpalästen, als deren Gegenpart die modernistisch-klaren und eher bescheidenen Wohnungen des Hansaviertels im Systemwettstreit des Kalten Krieges entstanden. Und historisch: jene Vergangenheit, vor der dieses aus dem Boden gestampfte Quartier, diese stadt von morgen, wie eine dazugehörige Bauausstellung hieß, in Richtung Zukunft fliehen wollte. Tomorrow Never Comes, Morgen kommt nie, antwortet Marinas Ausstellung mit ihrem Titel 2024 wie ein fernes Echo auf diesen programmatischen Titel von 1957. Der Ort mag derselbe sein, die Zeiten aber haben sich geändert. Aus dem Morgen ist längst ein Gestern geworden.

Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, die hier leben, aber je länger ich hier wohne, desto deutlicher tritt jene abwesende Vergangenheit hervor, die wie ein Verdrängtes durch die lichte Eleganz fast ungebrochen vorherrschenden Mid-Century-Modernismus an die Oberfläche drängt. Je weiter in die Zeit zurück das abstrakt gehaltene Morgen von damals sinkt, desto deutlicher wir es als Abwehr eines noch älteren, aber umso konkreteren Gestern sichtbar. Zahlreiche Gedenktafeln und Stolpersteine erinnern an die, die einst hier wohnten, längst gestorben, oft deportiert und ermordet. Riesige Bäume zeichnen in Spalieren Alleen ins Grün, wo keine mehr sind. Der Schutt der alten Gebäude, die bis auf wenige Ausnahmen in mehreren Bombennächten im November 1943 niederbrannten, liegt nur knapp unter den geschwungenen Bodenmodulationen der fließenden Landschaftsarchitektur oder steckt gleich als Zuschlag im Beton. Die weiten Fenster der Neubauten, die aus den Kratern emporwuchsen, indes verheißen eine Offenheit, die nichts zu verbergen scheint. An ihren bunt gekachelten Fassaden lässt sich alles abwaschen, auch die eigene Schuld.

Gehe ich durch das Viertel, erscheinen die großen Abstände zwischen den Gebäuden als Lücken und Leer- stellen. Das Ensemble der Interbau: ein paradoxer Zeitknoten, der sich nicht entwirren lässt, ein komplexer Ort mit verklebten Schichten; ein Denkmal, an dem nicht zuletzt deutlich wird, dass man im Nachkriegsdeutschland vor dem Erinnern und Gedenken vor allem das Vergessen und Verdrängen übte; ein Mahnmal – indirekt, in Teilen unfreiwillig und wahrscheinlich gerade deshalb so eindrücklich.

Heute kämpft das Viertel, umfassend unter Denkmalschutz stehend, mit seiner eigenen Musealisierung. Denn Musealisierung – etwas grundsätzlich anderes als lebendige Erinnerung – ist eine zweischneidige Angelegenheit. Allzu schnell verkantet sich der notwendige Impuls zum Bewahren in konkretem Stillstand. Die Folge blockierter Zukunftshorizonte ist ein Mangel an Gegenwart. Auch darauf scheint mir die bewusst konventionell gewählte, an die Fünfzigerjahre angelehnte Formensprache der Skulpturen Marinas hier zu verweisen: ein Wiedergänger jenes Tischmodells des Viertels, mit dem damals im sogenannten Berlin-Pavillon der Entwurf visualisiert wurde, heute in Form einer ewigen Bronze der Zeit enthoben.

Es gibt noch ein zweites Element in der Ausstellung, ein Wandgemälde an der Rückseite des Raums, das – in fast schon dialektischer Manier ebenso abstrakt-geometrisch wie die Skulpturen konkret – die Dinge wieder in Bewegung bringt. Ein neuer Plan? Ein Entwurf vielleicht, gekippt aus der Horizontalen in die Vertikale. Eventuell ein Sitzmodul, ein Ort, an dem die Menschen zusammenkommen können. Die drei Formen darüber stammen aus Marcel Duchamps 3 Stoppages étalon (1913/14). Duchamp hatte dafür einen exakt einen Meter langen Faden auf eine Leinwand fallen lassen und die entstehenden Formen ausgeschnitten: neue Einheiten für ein anderes Maß, die das Abweichende, Zufällige und Individuelle gerade auf der Grundlage des Normierten, Festgeschriebenen und Gemeinsamen betonen.

Ließe sich dieses Bild nun von der Wand zurück in den Raum kippen, auf dass es sich, ohne diese zu verdecken, wie eine weitere Schicht über die bronzene Version des Viertels legt? Wäre das nicht ein schönes Bild für gelebte und aktive Nachbarschaft im Sinne jener Dichte, die dem Viertel nicht auf geschichtlicher, aber doch auf konkreter städtebaulicher Ebene abgeht? Für eine Dichte, die das Gegenteil eines abstrakten Allgemeinen meint, nämlich Komplexität und konkrete, greifbare Nähe, wie sie nur ein gemeinsam belebter Ort bieten kann, der seine Geschichte, sein Geworden-Sein im fortwährenden Austausch aktualisiert. Denn auch Museen sind am Ende nur die Menschen, die in ihnen arbeiten, sich ihrer Artefakte annehmen und diese immer wieder neu zum Leben erwecken. Und Stadtviertel entsprechend die, die es bewohnen, die dort zusammenkommen für eine bestimmte Zeit, gemeinsam handeln, in diesem Heute und nicht irgendeinem – zufällig hier gelandet wie Fäden auf einer Leinwand. Nein, auf dieser Leinwand.

Text von Dominikus Müller
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Fotografin: Marina Pinsky

Einzelansichten: courtesy of the artist & CLEARING New York, Los Angeles, Foto von Benjamin Baltus

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Die Postkarte zur Ausstellung (1) ist online erhältlich via (1)

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